Während die meisten meiner Artikel mehr über das Leben um mich herum handeln, ist dieser Artikel über das Leben in mir. So oft vergesse ich diesen fortlaufenden Prozess, ohne den ich nicht wäre. Diese Kraft, die seit 3,85 Milliarden Jahren ununterbrochen besteht. Die von einer Generation an die nächste weitergegeben wurde. Nur ein paar Minuten lang nicht zu atmen, könnte den Unterschied ausmachen und sie auslöschen. Manchmal ist es in all dem wimmelnden Organisieren des täglichen Lebens so einfach, diese kostbare Kraft zu vergessen, die so schwer zu begreifen ist. Es gibt jedoch Momente, die die Verletzlichkeit ungewollt an die Oberfläche bringen.
Einer dieser Momente passierte im Januar 2023. Ich will ihn hier teilen. Möge er daran erinnern, wie klein wir gegenüber riesigen Kräften wie den Bergen sind, aber auch daran, wie risikobewusst und aufmerksam wir sein müssen, wenn wir dort unterwegs sind.
Es war ein wunderschöner Januartag in Riale in den Südalpen an der Grenze zwischen Italien und der Schweiz im Formazza-Tal. Das nur über Italien erreichbare Tal ist eines dieser Piemont-Täler der östlichen Seite des Lago Maggiore, in denen die Zeit stillzustehen scheint. In einem warmen Winter, in dem der Schnee knapp wurde, war dies einer dieser wenigen Tage mit genug Schnee für eine Skitour, kombiniert mit einem Himmel so blau wie er nur sein kann, und einer überraschend warmen Wintersonne.
Nach einem Morgenkaffee ging ich zusammen mit einem Freund, einem erfahrenen Skibergsteiger, los auf unseren Fellen. Beim Aufsteigen in ziemlich guter Geschwindigkeit bemerkten wir bereits einige Knackgeräusche im Schnee, die uns zur maximalen Vorsicht und Aufmerksamkeit mahnten. Es war Lawinenrisikostufe 3 gemeldet – die Warnstufe mit den meisten Unfälle, da das Risiko leicht unterschätzt wird. Die Warnstufe fordert das strikte Einhalten der Strecke und eine besonders aufmerksame Beurteilung der steilen Gefahrenzonen. Auf der Karte hatten wir diese gecheckt und wollten die Tour dennoch versuchen und umkehren im Fall, dass wir dem Schnee nicht vertrauen sollten.
Nachdem wir die kleine, steile Rinne durchquert hatten, machten wir für ein paar Minuten eine kurze Pause, bevor wir die letzten Meter zum Grat fortsetzten. Plötzlich gab es einen wahnsinnigen Knall wie eine Bombenexplosion. Als ich aufblickte, sah ich den ganzen Berg auf uns zukommen. Und dann war alles leer. Ich kann mich nicht an Entscheidungsprozesse erinnern oder was in den folgenden Sekunden passiert ist. Ich hatte nicht mehr die Kontrolle über meine Handlungen. Der Überlebensmodus, der Drang nach Leben, setzte ein. Alles, woran ich mich erinnere, war, dass ich mit meinen Tourenskiern so schnell wie möglich gerannt bin. Ich glaube, ich habe geschrien, bin mir aber nicht sicher. Keine Ahnung, wo diese Energie genau herkam, nachdem ich immer noch außer Atem von der steilen Rinne war. Wir rannten um unser Leben, weil wir genau an der Stelle war, wo die Lawine drauf hin zugerollt ist. Nach dem endlosen Rennen zu diesen wenigen Sekunden des verrückten Lärms, wenn ein Berg in Bewegung gerät, herrschte plötzlich Stille. Diese fast unerträgliche Stille. Magischerweise stoppte die Lawine nur wenige Meter von uns entfernt. Was zwischen diesen gegensätzlichen Geräuschen geschah, bestimmte, ob ich jetzt vollkommen intakt hier sitze, die Lebenskräfte immer noch in mir habe, oder ob das Leben mich verlassen hätte. Denn das war keine pudrige Lawine. Das waren große, massive Blöcke, mit einer immensen Kraft.
Während wir es außerhalb der Lawinenzone geschafft hatten, waren fünf Tourengänger in der Lawine. Sie wurden von der Lawine getragen, doch blieben alle oberhalb der Lawine. Dennoch waren wir nicht sicher, ob noch mehr Personen vor uns waren, die unter den Schneemassen begraben sein könnten. Also starteten wir mit unseren Piepsgeräte die Suche. Es schien, als ob niemand begraben war. Der Hubschrauber der Bergrettung kam trotzdem und überprüfte ebenfalls. Ich konnte immer noch nicht effektiv kommunizieren, als der Bergführer mich fragte – vielleicht war auch mein Italienisch in diesem Moment nicht zugänglich.
Die Lawine wurde von drei Skitourengänger ausgelöst, die vor uns waren. Sie entschieden sich, von der regulären Strecke abzuweichen und einen steilen Hang fernab der normalen Route zu gehen. Eine Entscheidung, die Bergsteiger mit etwas Risikobewusstsein an einem solchen Tag nicht getroffen hätten. Aber die Gefahr der Berge besteht darin, dass man nicht nur für eigenen Schritte verantwortlich ist. Getroffene Entscheidungen haben oft viel weitreichendere Auswirkungen. Dies erfordert auch eine vollständige Achtsamkeit und nicht nur auf die eigenen Schritte zu achten, sondern auch auf die Schritte um einen herum. Und nicht nur die Schritte von Menschen auch die Schritte von Gämsen, Ziegen oder Schafe können gefährlich werden und z.B. Steinschlag auslösen. In diesem Moment waren wir etwas zu sehr auf unsere eigenen Schritte konzentriert und vergaßen die Menschen vor uns. Glücklicherweise waren unsere Reaktionen scharf genug und der Berg war an diesem Tag gnädig und ließ alle sicher zurückkehren. Während der Abfahrt und der anschließenden Rückfahrt traf mich ein Adrenalinschub und ich war ein wenig überwältigt vom Leben. Jede Nuance des Lebens schien so lebendig krell und hell.
An diesem Tag war die Fragilität des Lebens so deutlich zu spüren. Ohne den instinktiven Überlebenswillen wäre ich heute vielleicht nicht hier. Wäre ich in diesem Moment nur schockiert und gelähmt gewesen, hätte der Tag anders ausgehen können. Mikroorganismen könnten bereits ihr Festmahl begonnen haben. Es ist einer dieser Tage, die aus dem Autopilot-Modus herausholen und die Perspektive auf die Welt verändern. Einige Augenblicke können den Unterschied machen. An diesem Tag hinterließen die Berge eine extra Portion Demut und Dankbarkeit.